Anfang Oktober 2020 übernahmen wir – zwei Schüler des Taras Shevchenko Gymnasiums №1 in Tscherniwzi und eine Studentin der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität – die Aufgabe, im Rahmen des internationalen digitalen Bildungsprojekts «Vermessung der Ghettos: Grodno – Czernowitz – Chișinău» den Teilnehmern der beiden anderen Projektstädte die Geschichte des Ghettos von Czernowitz 1941 zu erzählen.
Keiner von uns hatte dazu am Anfang ausreichendes historisches Wissen. Also mussten wir diese Geschichte zuerst selbst entdecken. Wir teilten die Aufgaben untereinander auf und begannen mit der Recherche in den Schulbüchern und im Internet, suchten nach Materialien in lokalen Bibliotheken und Archiven und befragten Experten zu dem Thema. Wir hatten nur einen Monat Zeit und wussten noch nicht genau, wie wir es realisierten sollten.
Die Suche nach Informationen im Schulbuch für die 10. Klasse führte zu keinen Ergebnissen. Nur in einem Absatz des Kapitels «Die Ukraine während des Zweiten Weltkriegs» werden die Ereignisse jener Jahre geschildert. Auf Seite 205 wird der Holocaust in der Ukraine angesprochen, aber es findet sich kein Wort über den Zweiten Weltkrieg in unserer Stadt, geschweige denn über das Ghetto.
Die Internetrecherchen waren effektiver. Anfangs kamen wir über die Schlüsselwörter "Holocaust in der Ukraine" auf die Webseiten zweier Museen – "Erinnerung an das jüdische Volk und den Holocaust in der Ukraine" in Dnipro und das Holocaust-Gedenkzentrum "Babyn Jar" in Kyjiw, aber bei beiden gab es keine Informationen über das Ghetto von Czernowitz. Nachdem wir die Suchkriterien (vor allem die Sprache) geändert hatten, stießen wir endlich auf einige sehr interessante Websites:
Auf diesen Seiten fanden wir viele interessante Informationen über die Bukowina und Czernowitz während des Zweiten Weltkriegs, darunter historische Aufnahmen, Dokumente aus den privaten Sammlungen ehemaliger Bewohner unserer Stadt, Erinnerungen sowie eine Karte, auf der die Grenzen des jüdischen Ghettos in Czernowitz eingezeichnet sind.
Die nächste Phase unserer Projektarbeit umfasste die Suche nach Materialien über das Ghetto Czernowitz in lokalen Bibliotheken und Archiven. Zunächst erkundigten wir uns, ob Lokalzeitungen von 1941 bis heute erhalten sind und wenn ja, ob sie über das Ghetto berichten. Nach langer Suche fanden wir in der Wissenschaftlichen Bibliothek der Universität einen Jahresband der Zeitung Bukovyna aus dem Jahr 1941 in rumänischer Sprache. Czernowitz/Cernăuți stand damals unter der Kontrolle der rumänischen Behörden. In der Ausgabe vom 27. August 1941 wurden wir auf den Titel einer Nachricht aufmerksam: «Ghettoul». Die Suche nach einem Übersetzer aus dem Rumänischen sowie die Übersetzung des Artikels selbst dauerten einige Zeit, aber am Ende konnten wir uns mit dem Nachrichteninhalt vertraut machen.
In den Beständen der Stadtbibliothek Anatoliy Dobryansky fanden wir dann mehrere Ausgaben des Vestnik, einer Sammlung von Zeugnissen ehemaliger Gefangener von NS-Lagern und Ghettos, die Anfang der neunziger Jahre in Tscherniwzi veröffentlicht wurden. Wir lasen diese Zeugnisse und wählten diejenigen aus, die mit dem Czernowitzer Ghetto zu tun hatten. Diese Arbeit war sehr aufschlussreich. Während wir an den Materialien arbeiteten, rieten uns die Mitarbeiter der Bibliothek, eine weitere Sammlung von Memoiren zu lesen, die 1998 auf Ukrainisch unter dem Titel «Czernowitz war einst eine jüdische Stadt. Erinnerungen von Zeitzeugen» erschienen ist. Und in diesem Buch fanden wir einige weitere interessante Erinnerungen an die Ereignisse im Sommer und Herbst 1941 in unserer Stadt.
Der nächste Ort unserer Recherche war das staatliche Gebietsarchiv, wo wir hofften, weiterführende Informationen zu finden. Wir waren sehr aufgeregt, weil wir noch keine Erfahrung mit Archivdokumenten hatten. Die Suche nach Dokumenten ist in den Archiven ein ziemlich schwieriger Prozess, aber die Archivarin erklärte sich freundlicherweise bereit, uns eine kurze Einführung zu geben, und war bei der Bestellung behilflich.
Einige Tage später blätterten wir uns durch die vergilbten Seiten der Archivdokumente, die nur einen Bruchteil der Archivmaterialien zum Holocaust in der Bukowina und Czernowitz betragen. Die meisten Dokumente waren auf Rumänisch, aber die Archivmitarbeiter halfen uns bei der Übersetzung. Dadurch haben wir mit einigen sehr wichtigen Dokumenten arbeiten können, die im direkten Zusammenhang mit dem Ghetto stehen.
Die nächste Einrichtung, die wir während unserer Arbeit an dem Mikroprojekt aufsuchten, war das Czernowitzer Museum für jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina, das sich am Theaterplatz im Gebäude des ehemaligen jüdischen Volkshauses (heute der zentrale Kulturpalast) befindet. Der Direktor Mykola Kuschnir führte uns durch das Museum. Es war ein faszinierender Rundgang durch die Dauerausstellung. Hier lernten wir alle wichtigen Phasen der Geschichte des bukowinischen Judentums kennen und verstanden auch, warum das Thema Holocaust und Ghetto in der Ausstellung mit relativ wenig Materialen behandelt wird. Um uns bei unserer Projektarbeit zu unterstützen, bot Mykola Kuschnir an, diese Geschichte ausführlich vor der Kamera zu erzählen. Dieses Angebot haben wir gerne angenommen.
Während des Gesprächs mit dem Museumsdirektor erfuhren wir auch, dass es Videoaufzeichnungen von Czernowitzer Zeitzeugen gibt, die über den Holocaust und das Ghetto berichten. Die Verwendung dieser Erinnerungen, die sich in den Beständen mehrerer internationaler Forschungseinrichtungen befinden, bedarf einer besonderen Genehmigung. Wir zeigen hier als Beispiel einen kleinen Ausschnitt, der einen Eindruck dieser historischen Quelle vermittelt.
Um die Ereignisse des Völkermords an den Czernowitzer Juden sowie die Rolle des Ghettos nachvollziehen zu können, haben wir mit Hilfe moderner Computertechnologien und erfahrener Spezialisten eine Zeitleiste der Chronologie der Ereignisse in unserer Stadt angefertigt.
Ein interessanter Teil unserer Arbeit war der Besuch des Territoriums, in dem im Herbst 1941 das Ghetto lag. An mehreren Tagen gingen wir durch die kleinen Straßen und Gassen der Altstadt und erkundeten den genauen Ghettoverlauf sowie die wichtigsten Orte seiner ehemaligen Infrastruktur. Wir nutzen dazu eine spezielle Karte, die von Schülern aus Tscherniwzi im Rahmen eines Schulprojekts unter der Leitung von Natalia Herasym, Lehrerin für Geschichte an der Schule №41, entwickelt wurde.
Es ist schwierig, Spuren des ehemaligen Ghettos im heutigen Tscherniwzi zu finden. An seine Existenz erinnern nur Gedenktafeln an alten Häusern und Denkmälern, die in der Vergangenheit an verschiedenen Standorten errichtet wurden. Jetzt spielen sie die Rolle von Wächtern, die die Erinnerung schützen. Als wir vor ihnen standen, stellten wir fest, dass sich die Zeit und die Suche gelohnt haben. Denn für diejenigen, die etwas darüber wissen, sind diese Häuser, Straßen und Denkmäler nicht mehr nur stille Zeugen der Geschichte. Jetzt sind sie interessante Gesprächspartner. Vielleicht werden auch Sie einmal mit ihnen sprechen.